Montag, 31. Januar 2011

max frisch, architekt

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Die Architektur der Micky Maus
In einer bisher unveröffentlichten Polemik ärgert sich Max Frisch über die damals aktuelle Architekturproduktion. Der ungefähr 1985 entstandene Text in einer gekürzten und leicht bearbeiteten Fassung.



1/5 «Architektur als Konditorei in Eisenbeton»: Max Frisch hatte nicht nur Freude an der Architektur.
Was da vor meinem Fenster entsteht, nämlich der neue S-Bahnhof Stadelhofen, langsam nach drei Jahren verraten sich die ersten architektonischen Formen. Es wird lustig werden: Ornamentik ohne jeden Zusammenhang mit der technischen Konstruktion. Aber machbar ist ja fast alles; warum soll man es lassen. Architektur als Konditorei in Eisenbeton.
Der Aufbruch ins Beliebige. Die Form bedarf keiner Rechtfertigung. Die Baugeschichte als Supermarkt: Man bedient sich nach Belieben. Die Formen sind nicht gemeint als Ausdruck einer Konstruktion. Sondern als Dekoration, also unverbindlich. Frei von historischem Bewusstsein. Der Architekt kann sich bei [Andrea] Palladio bedienen oder bei mittelalterlichen Giebelbauten oder wo immer. So frei ist er allerdings auch nicht, scheint es; wo man seine architektonischen Anleihen macht, das unterliegt der Mode. Die postmoderne Architektur ist nicht ein neuer Stil, sondern ein Ausverkauf, der ja nicht ohne Euphorie ist. Es gibt eine Euphorie vor dem Bankrott.
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Inwiefern die postmoderne Architektur, die sich so apolitisch gibt, so munter und unverbindlich, wenn sie Formen aus allen Epochen entlehnt, und frei von jedem geschichtlichen Bewusstsein, ihrerseits Ausdruck unserer Epoche ist. Ihre Ästhetik entspricht der Anti-Aufklärung, die politisch an der Macht ist. Wir sollen oder wollen uns nicht bewusst sein, welchen gesellschaftlichen Kräften wir unterworfen sind; es gibt Arbeitgeber und Arbeitnehmer, ja, aber Klassenbewusstsein ist unerwünscht. Ein Architekt, der ein liebenswürdiger Mann ist, weiss in guten Treuen nicht, warum seine Arbeit politisch sein soll oder ist; er ist ein Künstler . . .
Was soll einen Architekten hindern, zum Beispiel romanische Bögen zu bauen aus Eisenbeton oder ein andermal vielleicht gotische Spitzbögen? Man kann technisch sozusagen alles; je freier die Bauherrschaft, umso freier der Architekt.
Und was kein Wunder ist: Das Kapital liebt die Postmoderne auf Anhieb. Es will ja nicht durchschaubar werden, das Kapital, es braucht die Verschleierung. Ob es der Bundesrat ist, der die Schweiz regiert, oder das Kapital, die Banken, die Konzerne etc., wen geht es etwas an! Eine Fassade ist eine Fassade ist eine Fassade, und was dahinter ist, das weiss die Lobby.
Eine Architektur, deren Formen beliebig sind, nicht entwickelt aus einer technischen oder betrieblichen Funktion, sondern aufgesetzt, das ist natürlich genau die Architektur, wie die politische Anti-Aufklärung sie braucht. Insofern leben wir in einem Paradies für flotte Künstler. Erlaubt ist nicht nur, was gefällt; erlaubt ist auch, was bezahlt wird.
Warum also soll das Hochhaus eines amerikanischen Trusts nicht eine Pforte haben, so hoch etwa, dass ein Tyrannosaurier, das grösste Untier, das es auf unserem Planeten je gegeben hat, sich beim Eintritt nicht ducken müsste? Eine Ästhetik, die uns das Unmass verbieten würde, ist zurzeit nicht im Kurs. Wieso erinnern postmoderne Bauten gelegentlich an die Zeiten des Faschismus? Und dabei reden unsere Architekten, weiss Gott, durchaus apolitisch. Oder allenfalls liberal; je weniger Staat, umso besser.
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Zur Flucht in den Infantilismus: Das zeigte sich allerdings schon vorher, der unaufhaltbare Durchbruch der MickeyMouse, lasst uns wie die Kinderchen werden, um nicht wissen zu müssen, was um uns und mit uns vorgeht, Disney-Land, ich habe es mir in Kalifornien angesehen – Mickymaus als Urahn der Postmoderne, das wage ich natürlich nicht zu behaupten, ich meine es nur.
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Funktionalismus! Als ich Architektur habe studieren dürfen – die Eidgenössische Technische Hochschule, die berühmte, war gar keine gute Schule damals, ausgenommen Professor [Otto Rudolf ] Salvisberg [1882–1940], der alles andere als ein akademischer Lehrer war, kein Professor auf dem Katheder, sondern eher ein Meister im alten Sinn, dem man als Schüler abgucken muss, wie man es macht – und als ich zum Entwerfen kam, zuerst als Angestellter und später selbständig, war es Mode, dass man formale Bedürfnisse, denen man nachgab, rationalisieren musste: Form durfte keinesfalls ein blosser Einfall sein, eigentlich überhaupt kein Einfall, sondern sie ergab sich schlichterdings aus der betrieblichen Funktion, die der Bau zu erfüllen hatte, und aus dem Material usw.
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Und wenn ich selber etwas entworfen habe, schwindelte ich genauso. Wozu? Ich habe das steile Bedürfnis nach einem Steildach. Das ist auf meinem Reissbrett auch schon gezeichnet, aber nun brauche ich noch die Gründe dafür, warum es nur ein Steildach sein darf und kann, und Gründe können noch so vage sein, aber ich muss sie mir selber vortragen. Was für ein Krampf! Es konnte vorkommen, dass mein Entwurf mich überzeugte, und ich war keineswegs bereit, diesen Entwurf wesentlich zu ändern, aber ich brauchte einfach Gründe, um meinem Entwurf zu erlauben, dass er mich überzeugte, und seien diese Gründe noch so faul.
Funktionalismus als Geschwätz! – Von daher verstehe ich die Befreiung, wenn ein Architekt sich nicht fragen muss: warum ein Kreisrundfenster? Es erübrigt sich sogar die Frage: Warum nicht? Und was kann er denn dafür, wenn seine Studenten, sobald in ihren Entwürfen so etwas wie ein Fenster vonnöten ist oder auch nicht vonnöten, scharenweise zum Zirkel greifen – Mysterium der Mode.
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Ohne Zweifel (ich will ja nicht missverstanden werden, Herrgott nochmal) ist die Postmoderne sozusagen eine Befreiung, zumindest eine Enthemmung. Ist das vielleicht nichts? Seit sich als Postmoderne bezeichnet, was ohnehin der FalI ist, wimmelt es von Talenten. Ich bin durch die Halle unserer Hochschule gegangen, wo die Diplom-Projekte ausgestellt sind; wo die Ästhetik der Aufklärung gekündigt ist, gibt es eigentlich keine Stümper mehr, auch wenn sich die Anzahl der Studenten verzehnfacht; jedermann hat ein Anrecht auf Unwissen, ja, wie der Professor auch.
wie viel den Staat (die Steuerzahler aller Stufen) jeder dieser Studenten kostet, das ist hier keine Frage. Je weniger Staat, umso besser! Und soweit ich noch Pläne lesen kann, so sehen sie denn auch aus: Architektur als mehr oder weniger gekonnte Dekoration des gesellschaftlichen Status quo. Ist Architektur immer devot gewesen? [. . .] Niemand wird bestreiten, dass das Funktionalismus-Credo seine schlimmen Ergebnisse hatte: Die Öde von Siedlungen, die alle wie eine Hühnerfarm aussehen, die sture Öde von Verwaltungsbauten – es musste sich etwas ändern! Es entstanden immer weniger gute Bauten.
Eine Architektur-Revolte war fällig, kein Zweifel, eine Revolte gegen den Schematismus, der sich auf Funktionalismus hinausredet und tatsächlich nur auf einem Mangel an Form-Fantasie beruht. – Andererseits: Wenn ich nach Jahren wieder vor dem Seagram-Building [von Ludwig Mies van der Rohe in New York] stehe
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; die Fassade ist klar und dabei nicht geheimnislos. Ringsum stehen andere Hochhäuser aus dem gleichen Material: trostlos. Was macht den Unterschied? Offenbar ergibt sich Form nicht eo ipso aus der statischen Funktion; das ist mit dem Funktionalismus-Credo auch nie gemeint worden. Das wäre denn auch die Annullierung der Architektur. Gemeint ist eine Architektur, die Form zustande bringt, ohne zu verhehlen, was an einem Bau trägt und was getragen wird und wie. Eine Architektur nicht ohne Formspiel, aber sie zeigt dabei, was die Statik fordert und was unabdingbar ist, damit ein Hochhaus nicht wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt.
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Die Fassade ist keine Verkleidung, keine Larve, keine Faxe, sondern sie macht einsichtig; das Gebäude verbirgt sich nicht hinter der Fassade, sondern die Fassade macht das Gebäude sozusagen offenkundig. Oder sagen wir: lesbar. Das verstehe ich unter Architektur, gleichgültig, in welcher Stilepoche. schaft gar nicht passen kann, die wie unsere heute gesellschaftliche Kräfte nicht mehr beim Namen nennt, die nicht wissen mag, was da trägt und was da getragen wird, oder politisch: wer da ausbeutet und gewinnt und wer da ausgebeutet wird.
Wo die Schönheit eines Gebäudes sich nicht mehr aus der Transparenz ergibt, muss sie als Ornament aufgesetzt werden, als beliebiges Ornament, als Coiffure. Die Formen, da sie eben beliebig und nichtssagend sind, müssen verblüffen. Das ist ein Merkmal der Postmoderne: Sie verschleiert, sie täuscht vor und braucht das Verblüffende, um nicht haftbar zu werden. Das Verblüffende ist für jede Mode unerlässlich; der Stil, im Gegensatz zur Mode, verblüfft nicht, sondern überzeugt. Die Postmoderne ist kein Stil, sie bringt nicht zur sinnlichen Erscheinung, was gesellschaftlich der FalI ist, und versucht es nicht einmal, im Gegenteil, sie verziert eine Gesellschaft, die sich selbst nicht erkennen will, und ist politisch, ohne es wissen zu wollen: als Bauweise einer Epoche der Anti-Aufklärung.
(Tages-Anzeiger)


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